In der Welt der Informationstechnologie werden riesige Summen und unzählige Arbeitsstunden in die Entwicklung komplexer Systeme investiert, von globalen Softwareplattformen über Cloud-Infrastrukturen bis hin zu unternehmensweiten ERP-Implementierungen. Trotz brillanter Ingenieure, detaillierter Projektpläne und modernster Methoden enden viele dieser Vorhaben in teilweisen oder kompletten Fehlschlägen. Um zu verstehen, warum dies so ist, lohnt sich ein Blick auf ein klassisches, aber heute relevanteres Werk denn je: "Systemantics: How Systems Work and Especially How They Fail" von Dr. John Gall.
In seinem Buch aus dem Jahr 1975 erklärt Gall mit scharfem Witz und tiefgründiger Einsicht, warum komplexe Systeme eine inhärente Tendenz haben, auf unerwartete, unvorhersehbare und oft paradoxe Weise zu versagen. Seine Erkenntnisse sind keine Anklage gegen die Technologie selbst, sondern eine Beschreibung fundamentaler Gesetze, die für alle komplexen Systeme gelten. Für jeden, der in der IT arbeitet, bietet Systemantics eine unverzichtbare Linse, um wiederkehrende Muster des Scheiterns zu erkennen und vielleicht – mit der nötigen Demut – zu vermeiden.
Gall formuliert eine Reihe von Axiomen, die die Natur komplexer Systeme beschreiben. Sie sind oft kontraintuitiv, aber bei näherer Betrachtung erschreckend zutreffend.
Das Grundgesetz der Systemantik (Fundamental Axiom): "Systeme im Allgemeinen funktionieren schlecht oder gar nicht". Dies ist nicht als zynische Übertreibung gedacht, sondern als realistischer Ausgangspunkt. Die Annahme, dass ein neues, komplexes System reibungslos funktionieren wird, ist die Ausnahme, nicht die Regel.
Gall's Law (Das Gesetz von Gall): "Ein komplexes System, das funktioniert, ist ausnahmslos aus einem einfachen System hervorgegangen, das funktioniert hat.". Dies ist vielleicht das berühmteste und wichtigste Prinzip. Es hat ein entscheidendes Korollar
"Ein von Grund auf neu entworfenes komplexes System funktioniert nie und kann auch nicht zum Laufen gebracht werden. Man muss von vorne anfangen, mit einem funktionierenden einfachen System.". Dieses Gesetz erklärt, warum "Big-Bang"-Projekte, die versuchen, ein riesiges System in einem Wurf zu realisieren, fast immer scheitern.
Weitere Schlüsselaxiome beleuchten die tückische Natur von Systemen:
"Neue Systeme erzeugen neue Probleme.". Die Einführung eines Systems zur Lösung eines Problems (z.B. eine neue Software) schafft sofort ein zusätzliches Problem: das System selbst muss gewartet, gesichert, aktualisiert und verwaltet werden.
"Systeme neigen dazu zu wachsen und dabei übergriffig zu werden.". Dieses Axiom beschreibt Phänomene wie "Feature Creep" in der Softwareentwicklung oder das Wuchern von Bürokratie in Organisationen. Das System dehnt sich aus, oft über seinen ursprünglichen Zweck hinaus.
"Komplexe Systeme neigen dazu, ihrer eigenen eigentlichen Funktion entgegenzuwirken.". Ein System entwickelt ein Eigenleben. Sein oberstes Ziel wird oft die Selbsterhaltung, selbst wenn dies dem ursprünglichen Zweck widerspricht.
"Menschen in Systemen tun nicht das, was das System vorgibt.". Benutzer finden Workarounds für umständliche Prozesse, Mitarbeiter optimieren ihr Verhalten, um Metriken zu erfüllen, anstatt den eigentlichen Zweck zu verfolgen.
"Die Realität ist das, was dem System gemeldet wird.". Ein System ist blind für alles, was seine "Sinnesorgane" – also seine Metriken, Dashboards und Berichte – nicht erfassen können. Dies führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Galls Axiome sind keine abstrakten Theorien; sie sind ein mächtiges analytisches Werkzeug, um zu verstehen, warum spektakuläre IT-Fehlschläge keine bedauerlichen Einzelfälle, sondern fast zwangsläufige Manifestationen universeller Systemgesetze sind. Die folgende Analyse zeigt dies an vier bekannten Beispielen.
Die Analyse einzelner Projektfehler liefert zunächst spezifische, technische oder prozessuale Ursachen. So war beim Ariane-5-Start ein Softwarefehler die Ursache, während beim Gepäcksystem des Flughafens Denver schlechtes Management eine Rolle spielte. Galls Axiome hingegen sind abstrakte, allgemeingültige Prinzipien. Die Stärke der folgenden Tabelle liegt darin, die konkreten Fehler den abstrakten Axiomen zuzuordnen. Dies schafft eine Brücke vom Spezifischen zum Allgemeinen und ermöglicht eine entscheidende Mustererkennung. Man erkennt, dass der Softwarefehler bei Ariane 5 und die mechanischen Probleme in Denver nicht nur isolierte Pannen sind, sondern beide dem Axiom folgen, dass komplexe Systeme auf unvorhersehbare Weise zusammenbrechen. Diese Mustererkennung transformiert die Analyse von einer reinen "Was ist passiert?"-Beschreibung zu einer tiefgreifenden "Warum passieren solche Dinge immer wieder?"-Erkenntnis.
Fallstudie |
Beobachtetes Problem / Fehlerursache |
Korrespondierendes Systemantics-Axiom |
Ariane 5 |
Wiederverwendung von Ariane-4-Software in einer neuen, ungetesteten Umgebung (höhere horizontale Geschwindigkeit). Ein Integer-Überlauf durch einen 64-Bit-Fließkommawert, der in eine 16-Bit-Ganzzahl konvertiert wurde, führte zum Ausfall des Trägheitsreferenzsystems und zur Selbstzerstörung der Rakete.
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"Komplexe Systeme weisen unerwartetes Verhalten auf." / "Ein System, das eine bestimmte Funktion ausführt, wird dies auch unter geänderten Bedingungen weiterhin tun." |
Denver Int. Airport Gepäcksystem
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Der Versuch, das weltweit komplexeste automatisierte Gepäcksystem von Grund auf zu entwerfen, ohne funktionierenden Prototyp. Die Komplexität (z.B. das "Line Balancing" von 4.000 autonomen Wagen) wurde massiv unterschätzt. Das Projekt scheiterte katastrophal, verzögerte die Flughafeneröffnung um 16 Monate und kostete zusätzlich 560 Millionen USD.
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"Ein von Grund auf neu entworfenes komplexes System funktioniert nie." (Gall's Law) / "Neue Systeme erzeugen neue Probleme." |
Therac-25 |
Entfernung von bewährten Hardware-Sicherheitsverriegelungen und blindes Vertrauen in die neue Softwaresteuerung. Ein subtiler Race-Condition-Bug, der nur bei schneller Dateneingabe auftrat, führte zu massiven Strahlungsüberdosen und Todesfällen. Frühe Fehlerberichte der Anwender wurden von den Ingenieuren als unmöglich abgetan.
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"Komplexe Systeme versagen auf unendlich viele Arten." / "Menschen in Systemen werden durch das System von der Realität abgeschirmt." |
FBI Virtual Case File
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Unklare, sich ständig ändernde Anforderungen ("Scope Creep"), mangelhaftes Management und der Versuch, ein riesiges, monolithisches System zur Modernisierung der gesamten Fallverwaltung zu bauen, führten nach der Verschwendung von 170 Millionen USD zur Einstellung des Projekts, ohne ein funktionierendes Produkt zu liefern.
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"Komplexe Systeme neigen dazu, ihrer eigenen eigentlichen Funktion entgegenzuwirken." / "Große Systeme produzieren komplizierte Antworten (keine Lösungen)." |
Galls Werk könnte auf den ersten Blick pessimistisch wirken. Doch die entscheidende Erkenntnis liegt darin, dass moderne Ansätze der Organisations- und Führungslehre, wie sie in den vorangegangenen Artikeln beschrieben wurden, als direkte und praktische Antworten auf die von Gall beschriebenen Fallstricke verstanden werden können.
Gall postuliert: "Komplexe Systeme, die von Grund auf entworfen werden, scheitern". Die moderne agile Softwareentwicklung antwortet darauf mit dem Prinzip des Minimum Viable Product (MVP) – beginne klein und iteriere. Team Topologies treibt diesen Gedanken auf die Spitze, indem es fordert, mit einem einfachen, funktionierenden System zu starten, das von einem einzigen, autonomen Stream-aligned Team verantwortet wird. Das Konzept der "Thinnest Viable Platform" aus der Trade-Me-Fallstudie ist die direkte Anwendung von Galls Gesetz auf die Ebene der internen Plattformen.
Gall stellt fest: "Menschen in Systemen werden von der Realität abgeschirmt". Intent-Based Leadership kontert dies mit der Forderung: "Verschiebe die Autorität dorthin, wo die Information ist". Dieses Prinzip durchbricht die Informationsfilter des Systems und zwingt die Entscheider, sich mit der Realität an der Front auseinanderzusetzen, anstatt sich auf verzerrte Berichte zu verlassen.
Gall warnt: "Systeme laufen am besten, wenn sie so konzipiert sind, dass sie bergab laufen" – also mit den menschlichen Neigungen arbeiten, nicht gegen sie. Servant Leadership verkörpert dieses Prinzip, indem es sich darauf konzentriert, Reibung zu reduzieren und Hindernisse für die Mitarbeiter zu beseitigen, anstatt zu versuchen, das System durch Druck und Kontrolle zu mehr Leistung zu zwingen.
Die Konzepte aus den ersten beiden Artikeln sind somit nicht nur "gute Ideen" für eine bessere Zusammenarbeit, sondern notwendige Überlebensstrategien in einer Welt, die den unerbittlichen Gesetzen der Systemantics unterliegt.
Die wichtigste Lehre aus Systemantics ist die Notwendigkeit intellektueller Demut gegenüber der Komplexität. Die Annahme, man könne ein komplexes soziotechnisches System vollständig verstehen, planen und kontrollieren, ist eine gefährliche Illusion.
Erfolgreiche Organisationen im 21. Jahrhundert sind nicht diejenigen mit den perfektesten, allumfassenden Plänen. Es sind diejenigen, die am schnellsten lernen, sich anpassen und auf unerwartete Ereignisse reagieren können. Sie erkennen an, dass Scheitern eine unvermeidliche Eigenschaft komplexer Systeme ist, und bauen daher auf Resilienz statt auf trügerische Perfektion.
Die Kombination aus einer adaptiven, entkoppelten Struktur (Team Topologies), einer dienenden und befähigenden Führung (Intent-Based & Servant Leadership) und dem tiefen Respekt vor den Gesetzen der Komplexität (Systemantics) bildet die wahre Grundlage für widerstandsfähige, innovative und letztlich humane Organisationen, die im digitalen Zeitalter nicht nur überleben, sondern gedeihen können.
Lassen Sie uns die Dinge ins Rollen bringen